Anja Lemke ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Nach einer Promotion mit einer Arbeit zu Martin Heidegger und Paul Celan an der Universität Hamburg war sie u.a. wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung, am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, am DFG-Graduiertenkolleg »Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung« sowie am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt, wo sie 2008 mit einer Arbeit zu »Memoria als poiesis. Untersuchungen zur Poetik der Erinnerung in der Moderne« habilitierte. Seit 2009 lehrt sie an der Universität zu Köln, zwischen 2010 und 2013 war sie als research fellow der Alexander von Humboldtstiftung mehrfach an der UC Berkeley zu Gast.
Das enthauptete Selbst – Zur latenten Gewaltförmigkeit der formatio vitae in künstlerischen Selbstbildungsprozessen um 1800
Das Projekt beschäftigt sich mit dem Weiterleben gewaltförmiger reformatorischer und barocker Bildbestände in autobiographischen Zeugnissen um 1800. Untersucht werden autobiographische Schriften im weitesten Sinne, in denen sich der Versuch der Selbstformung als Selbstbewusstwerdungsprozess mit der Frage nach dem eigenen Künstlertum und den Grenzen und Möglichkeiten der künstlerischen Darstellung verbindet. Verfolgt wird die Hypothese einer latenten, verdrängten Gewaltförmigkeit dieser Selbstformation exakt in dem Moment, in dem Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert ins Zentrum des literarischen Interesses rückt.
Während sich im Barock vor allem in der bildenden Kunst noch ein offensiver Umgang mit der gewaltsamen Seite der künstlerischen Produktion findet (der Topos vom Künstler als Opfer, Selbstportraits in Form von enthaupteten Köpfen, etwa bei Caravaggio und Cranach etc.), wird das Moment der Gewalt in der Folge der Aufklärung im klassischen Diskurs um 1800 zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Das Gewaltförmige, Deformierende und Mortifizierende, das dem Selbstbildungsprozess als formatio vitae innewohnt, tritt zugunsten eines harmonisierenden und verlebendigenden Totalitätsbestrebens zurück. »Pygmalion« verdrängt »Medusa«, doch diese bleibt in den ästhetischen Diskursen und Praktiken des späten 18. Jahrhunderts als Subtext erhalten und findet seinen ausgezeichneten Ort in autobiographischen Texten als derjenigen Form, der es ausdrücklich um die Verbindung von Subjekt- und Form- bzw. Bildungsproblematik geht.