Buchstaben der Welt - Welt der Buchstaben

13.–14.01.2011

Organisation: Ryosuke Ohashi, Martin Roussel

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Sein 1921 in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichtes Alphabet beginnt Robert Walser am Anfang: „A. reitet als Amazone durch eine Allee. Was für ein nobler, prächtiger Anblick. Ich könnte mich in die schöne Gestalt beinah’ verlieben.“ Über B wie Berg folgt Walsers Exkursion in die Schrift der Ordnung des Alphabets Buchstabe für Buchstabe bis zum Ende: „X. hat nix. Über Y. komm’ ich zu Z., einem Zeitungsbureau und gebe mein Alphabet ab.“ Diese emblematische Ausfaltung des Alphabets in seine Elemente und deren bildhafte Ausmalung findet ihre Pointe darin, dass die Bildererzählung des Alphabets am Ende tatsächlich eine zusammenhängende Schrift gibt, die über das „Zeitungsbureau“ als Text Walsers – als sein Alphabet – lesbar geworden ist. In der Welt seiner Bilder hat dieser Text also nichts anderes erzählt als die Geschichte seiner Genese aus den Buchstaben und der Welt, die sich mit ihnen und in ihrer Gestalt erzählen lässt. An diese Geschichte Walser und die Figurationen seines Alphabets lassen sich einige systematische, historische und kulturvergleichende Beobachtungen anschließen, die sich um die Frage drehen, wie sich kulturelles Wissen in der Gestalt von Buchstaben oder Schriftzeichen ausprägt und wie diese konkreten Ausformungen in einer Dynamik kultureller Prozesse wirkmächtig werden können.

Die Geschichte des Buchstabens ist sehr lang. Wenn man auf die sinaitischen Vorläufer des phönizischen Alphabets zurückgeht, so ist sie ca. 4.000 Jahre; wenn man die alteuropäischen Zeichen der Vin a-Kultur und die 2003 in China entdeckten, auf Schildkrötenpanzern eingeschriebenen Zeichen als „Buchstaben“ versteht, dann sogar ca. 7.000 Jahre. Mit der Entstehung von Buchstaben bzw. Schrift unterscheiden HistorikerInnen zwischen den prähistorischen Zeiten und dem Eintritt in die „Geschichte“. Was bedeutet es, die „Historie“ mit der kulturellen Evolution des Buchstabens zusammenzudenken? Schon mit dieser Frage taucht die weitere wesentliche Frage, was überhaupt der „Buchstabe“ sei.

Der Buchstabe wurde bisher in seiner Entwicklungsgeschichte, in seiner Funktion innerhalb eines jeweiligen Schriftsystems und einer grammatikalischen Ordnung, in seinem Charakter als Zeichen, Bild, Design, Form usw. semiologisch oder kulturhistorisch erforscht. Gegenüber diesen historisch-systematischen Kontextualisierungen sollen die einzelnen und konkreten Phänomene der Buchstäblichkeit als kulturelle Gebilde betrachtet werden. Im Sinne des Internationalen Kollegs könnte man vom Buchstaben als Morphom sprechen. Ziel ist es damit, Buchstaben in der Genese ihrer Gestalt als Elemente der Kultur zu erkennen sowie ihre historische Wirkmächtigkeit für die kulturellen Bedeutungssysteme im Ausgang von ihrer konkreten Form zu analysieren. Allgemein gefasst lassen sich die kulturell wie historisch divergenten Ausprägungen von Buchstabengestalten – in verschiedenen Alphabeten wie etwa dem phönizischen, griechischen, lateinischen und in verschiedenen Schriftarten (Monumental- vs. Alltagsschrift, durch verschiedene Werkzeuge wie Feder oder Pinsel bestimmt etc.) - als Konkretisierungen und Manifestationen kultureller Gewohnheiten und epistemischer Grundlagen bestimmen; umgekehrt kann die Gestalt eines Buchstabens selbst wirkmächtig werden, wie beispielsweise die Form der römischen capitalis monumentalis, die Entwicklung von Initialen oder das Spiel mit der Schriftbildlichkeit. So lassen sich nicht nur Buchstaben als Teil kultureller Traditionen und Praktiken beschreiben, sondern, umgekehrt, Kulturen von ihren Buchstaben her beleuchten. Dies ermöglicht zugleich einen Kulturvergleich in nuce und im Ausgang von den figurativen Aspekten der Schriftzeichen. Es sollen also nicht nur einzelne Buchstaben verglichen werden, sondern zugleich sinnbildliche Bedeutungen in den verschiedenen Kulturen vergleichend fruchtbar gemacht werden.

In zweiter Hinsicht soll das Verhältnis der Schriftzeichen zur Sprache „morphomatisch“ in den Blick kommen. Von der Einführung der Vokale und ihrer Grapheme ins griechische Alphabet über die Bedeutung des Buchstabens in der platonischen Sprachauffassung etwa im Kratylos bis zu den „bildlicheren“ Schriftzeichen Ostasiens oder zahlenbasierten Computer-Sprachen bestimmt sich Sprachliches nicht zuletzt von den Schreibpraktiken und der visuellen Gestalt der Schriftzeichen her. Wie wirken sich Figurationen von Buchstaben auf das System einer jeweiligen Sprache aus?

Der Workshop verfolgt angesichts des breiten Arbeitsfeldes weniger einen enzyklopädischen oder sammelnden Aspekt, sondern zielt auf Fallstudien und kulturvergleichende Ansätze. Mit der Fokussierung auf die Gestalt von Schriftzeichen sollen die interkulturellen Vergleichshinsichten über das kulturelle Formeninventar – über die Konkretisierungen kultureller Praktiken – eröffnet werden.

Audiomitschnitte

Beatrice Primus (Köln): Die Buchstaben unseres Alphabets

Christian Stetter (Aachen): Buchstaben und Zeichen

Helwig Schmidt-Glinzer (Wolfenbüttel): Ostasiatische Schriftzeichen und deren Kultur

Stefan Claudius (Hamburg/Essen): Von der Kalligraphie zum Vektor

Ivonne Förster (Jena): Versuch einer Phänomenologie des Buchstabens

Ralf Beuthan (Jena): Vom Geist des Buchstabens

Eveline Cioflec (East London, Südafrika): Morphomatische Phänomenologie von Buchstaben

Bildergalerie