»Pluto, nicht Orpheus«. Das Biographische in Schalamows »neue Prosa«
Kein anderer Schriftsteller ist so scharf gegen ein »touristisches Prinzip« in der Literatur vorgegangen wie Warlam Schalamow. Nach eigener Aussage hört er als Verfasser der »neuen Prosa« auf, bloßer Zuschauer zu sein, er nimmt direkt am Drama des Lebens teil, und zwar nicht als Außenseiter, sondern als Mensch, mit eigenem Blut, mit eigener Haut. Alles nur Eingebildete wird für die »neue Prosa« überflüssig und muss gnadenlos entfernt werden. Frühere Literaten bedienten sich der Sprache der Leser, jetzt sollen sie lernen, dem Leser ihre eigene, durch first-hand Erfahrung erworbene Sprache beizubringen.
Nach zwanzig Jahren im GULAG war der Autor der »Erzählungen aus Kolyma« selbst Verkörperung dessen was er für die notwendige Voraussetzung einer neuen Literatur hielt. Vorbildlich war er »nicht Orpheus, der in die Hölle hinabsteigt«, sondern »Pluto, der aus der Hölle entsteigt«. Erdichten brauchte er nichts, sein Gedächtnis enthielt eine ganze Menge Sujets, »man musste nur auswählen und das Geeignete aufs Papier bringen«.
Er wollte Prosa schreiben, die sich vom historischen Dokument nicht unterscheidet. Das gelang ihm nur teilweise: Ihm wurde bewusst, dass kein Dokument einer solchen Unmenschlichkeit, die seine Texte belegen, standzuhalten imstande gewesen wäre.
Seine endgültige Definition der »neuen Prosa« lautete: »Keine Prosa des Dokuments, sondern die Prosa, die durchlitten ist, wie ein Dokument.«
Schalamows Literatur war gleichzeitig Vita, Biographie, life writing. Er verstand es, die Trennlinie zwischen Kunst und Leben so dünn wie möglich halten. Sein Weg zum breiten Publikum war durch diese kompromisslose Haltung verurteilt »steinig« zu sein.
Umso erfreulicher ist es, dass in den letzten Jahren seine »neue Prosa« in Europa mehr und mehr Leser und Bewunderer findet.
Ergänzend hierzu plane ich auf der Grundlage von Archivmaterial im Besitz meiner Familie einen biographischen Aufsatz über die verschiedenen darin dokumentierten Todesarten (vom natürlichen Tod bis hin zum Tod durch Erschießen) meines Großvaters mütterlicherseits, Sergei Pawlowitsch Tschaplin, der Anfang 1942 auf Kolyma in Stalins KZ starb.